Anne Sofie von Otter als Angelus Novus, in: Die letzten Tage der Menschheit von Philippe Manoury, Bildrechte: Sandra Then

Philippe Manoury, „Die letzten Tage der Menschheit“ in Köln

„Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus ist eine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ und besteht aus 220 Szenen. Kraus selbst hielt das Stück, in dem er die Schrecken des 1. Weltkriegs verarbeitet, für nicht aufführbar. Trotzdem ist die Liste von Theaterproduktionen, die sich mit diesen collageartig zusammengefügten Szenen auseinandergesetzt haben sehr lang. Und nun wurde in Köln auch eine Oper des französischen Komponisten Philippe Manoury über diesen Stoff uraufgeführt, der sich das Libretto zusammen mit dem Dramaturgen Patrick Hahn und dem Regisseur Nicolas Stemann aus dem Kraus’schen Konvolut zusammengestellt hat.

Die Oper folgt in ihrer Gliederung ziemlich exakt der Original. Sie dauert anstatt 10 Abende, wie Kraus für das Theaterstück mutmaßte, immerhin noch gut 3 Stunden. Eine wichtige Ergänzung haben die Autoren mit der Figur des Angelus Novus eingeführt, der wie aus einer anderen Sphäre blickend den Untergang der Menschheit vorhersagt, in Köln von der Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter mit durchdringendem Stimmvolumen verkörpert. Angelus Novus ist der Titel einer Zeichnung von Paul Klee, die der Philosoph Walter Benjamin besaß und darüber sagte, er blicke mit starrenden Augen auf den „Trümmerhaufen“ des Fortschritts.

Der Aufführungsapparat bei der Kölner Uraufführung hat riesige Dimensionen: drei vollbesetzte Orchestergruppen, 13 Solisten, zwei Schauspieler, Chor und aufwendige Live-Elektronik vom IRCAM in Paris bereitgestellt, alles zusammengehalten von dem in aller Ruhe souverän seines koordinierenden Amtes waltenden Dirigenten Peter Rundel.

Der erste Teil ist eine Aneinanderreihung von bizarren und grotesken Kriegsszenen, alles basierend auf den von Kraus gesammelten Original-Dokumenten. Da erlebt man das erschütternde „Briefduett“ eines Soldaten und seiner Frau, die von einem anderen schwanger geworden ist, weil sie annahm, ihr Mann sei gefallen und nun hofft, dass das Kind stirbt, damit „alles wieder gut“ ist. Oder eine Kriegsreporterin, die das Geschehen an der Front als Spektakel begreift und sich von Soldaten Emotionen schildern lassen will. Dann die kriegsverherrlichenden Predigten von Geistlichen oder das Bedauern einer Frau, deren Mann, weil als Regierungsbeamter unabkömmlich, nicht den Heldentod sterben kann und auch nicht ihre Kinder, die zu jung sind.

Manoury schreibt hier eine im besten Sinne illustrative Theatermusik, hochdramatische oder exaltierte Arien für die Frauen oder einen klanggesättigten, variantenreichen Orchesterkommentar zu den langen melodramatischen Sprechszenen der Schauspieler, Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg, die im Kommentarton im Prolog noch zu schütteren Klängen die bevorstehende Aufführung wie im epischen Theater vorstellen, später Dialoge von Wiener Bürgern sprechen, die das Kriegsgeschehen mit sarkastisch-gleichgültigem Unterton kommentieren.

Diese werden von dem Regisseur Nicolas Stemann und dem Videoteam Konrad Hempel und Claudia Lehmann durch viele Close-Ups nahe gebracht, da der Szenenraum im Staatenhaus komplett vom riesigen Orchester Aufbau beherrscht wird und ohne eine solche filmische Aufbereitung kaum ein theatralisches Erlebnis möglich gewesen wäre.

Im zweiten Teil nach der Pause ändert sich alles. Es geht jetzt nicht länger um den wahnwitzigen Realismus des Kriegsgeschehens, sondern um dystopische Visionen, die am Ende in den lapidaren Satz münden, der Gott bzw. der Stimme von oben in den Mund gelegt wird: „Ich habe es nicht gewollt“, tatsächlich aber ein Zitat von Kaiser Wilhelm II. ist.

Vor allem aber ändert sich die Musik von Manoury, die sich nun zu einer veritablen Raumklangkomposition entfaltet mit zahlreichen elektronischen Modellierungen und Klangerweiterungen. Dabei bleibt die Musiksprache von Manoury, wie schon im ersten Teil, immer fasslich bis hin zu zitatähnlichen Anklängen, wenn man etwa zu Beginn des zweiten Teils für einige Minuten glaubt, das Vorspiel des dritten Aufzugs von Wagners „Parsifal“ zu hören, wo es ebenso um eine Weltuntergangsstimmung geht. Und hier verschiebt sich das Videogeschehen in Richtung moderner Kriegsführung mit B2-Bombern, Hubschraubern und Cybertechnik.

Diese erste Oper über Karl Kraus ist in weiten Teilen ein sehr gelungener Versuch über dieses nach wie vor zugleich bestürzende wie sperrige Werk. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Kürzung auf drei Stunden bei dem gleichzeitigen Anspruch, möglichst viel von der Wortgewalt des Wiener Schriftstellers zu bewahren, ist die Oper sehr textlastig geraten, was gerade im zweiten Teil, wo ja eigentlich Philippe Manoury sein kompositorisches Können in voller Breite ausstellt, aber die realistischen Szenen zu Ende sind, eine Herausforderung für das Publikum bedeutet.

Uraufführung: 27.06.2025, noch bis zum 09.07.2025

WDR 3 hat die Premiere aufgezeichnet, die Sendung findet am 05.07.2025 in ARD Oper bundesweit statt

Besetzung:
Angelus Novus: Anne Sofie von Otter
Sopran A Emily Hindrichs
Sopran B: Tamara Bounazou
Sopran C: Constanze Rottler
Sopran D: Simge Çiftci
Mezzosopran A: Johanna Thomsen
Mezzosopran B: Christina Daletska
Mezzosopran C: Barbara Ochs
Tenor A: Dmitry Ivanchey
Tenor B: John Heuzenroeder
Tenor C: Armando Elizondo
Bariton A: Miljenko Turk
Bariton B / Bass: Lucas Singer
Bass: Nicolas Boulanger
Schauspieler: Sebastian Blomberg
Schauspielerin: Patrycia Ziolkowska

Chor der Oper Köln
Gürzenich-Orchester Köln

Libretto: Philippe Manoury, Nicolas Stemann, Patrick Hahn
Musikalische Leitung: Peter Rundel
Inszenierung: Nicolas Stemann
Bühne: Katrin Nottrodt
Kostüme: Tina Kloempken
Mediale Inszenierung: IXA (Claudia Lehmann, Konrad Hempel)
Lichtdesign: Elana SiberskiF
Klangregie & Live-Elektronik: IRCAM (Miller Puckette, Carlo Laurenzi, Sylvain Cadars, Philippe Manoury)
Chorleitung: Rustam Samedov
Dramaturgie: Stephan Steinmetz, Patrick Hahn